«Am Ende dürfte Grossbritannien wohl besser dastehen als heute.»
Der Entscheid des britischen Stimmvolkes zum Austritt aus der EU wird den Schweizer Wirtschaftsstandort nicht unberührt lassen. Gleich nach dem Brexit-Votum verloren die Titel der Londoner Immobiliengesellschaften um etwa ein Fünftel an Wert, was im Gegenzug den kotierten Schweizer Immobiliengesellschaften gewissen Aufwind gab. Die hängige Debatte um die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative ist für den hiesigen Immobilienmarkt ebenso entscheidend, denn bisher stützen die EU-Zuwanderer die Nachfrage von Wohneigentum. IAZI-Quarterly hat den Leiter der ECOFIN-Gruppe, Prof. Dr. Martin Janssen, gebeten, bei diesen wichtigen Dossiers die Wechselwirkung von Politik und Wirtschaft für die Leser zu entwirren und die Konsequenzen für den Schweizer Immobilienmarkt aufzuzeigen.
Die britischen Stimmbürger haben sich im Juni für den Austritt aus der EU entschieden. Die Verhandlungen könnten etwa zwei Jahre in Anspruch nehmen. Resultieren daraus wirtschaftliche Folgen für die Schweiz?
Martin Janssen: «Alle Veränderungen haben wirtschaftliche Folgen. Welche, sind meist unklar. Zuerst einmal dürfte der englische Konsument seinen Gürtel wegen der gestiegenen Exportpreise etwas enger schnallen müssen. Praktisch gleichzeitig wird es aber wegen des schwächeren Pfunds zu einem Aufschwung in der Güterproduktion kommen. Wegen der zu erwartenden Liberalisierung dürfte Grossbritannien in einigen Jahren wohl besser dastehen als ohne Brexit. Was die Schweiz angeht, kann man nur spekulieren: Die Schweiz wird mit dem UK vielleicht einen neuen Freihandelsvertrag abschliessen, der Produkte, Kapital und Dienstleistungen umfasst. Das würde zu einer gegenseitigen Stärkung der Wettbewerbssituationen auf den betreffenden Märkten führen und auch in der Schweiz positive Impulse lostreten.»
Wird es auch Folgen geben, positive oder negative, für bestimmte Wirtschaftssektoren?
Martin Janssen: «Bestehende Handelsbeziehungen dürften ausgebaut werden. Wichtiger dürften jedoch Substitutionswirkungen sein: Dort, wo der Handel zwischen Grossbritannien und der EU wegen des Brexit eingeschränkt werden wird, dürften neue Handelschancen für die Schweiz entstehen. Es könnte dabei unter anderem um Sektoren gehen, wo die deutsche Wirtschaft heute stark ist. Automobilzulieferungen, Maschinenbau. Auch der Finanzsektor dürfte profitieren.»
In unsicheren Zeiten wird der Schweizer Franken zur Fluchtwährung. Tatsächlich fiel der Eurokurs nach Bekanntwerden des Abstimmungsvotums von 1.10 auf gut 1.06 Franken. Dürfte die Schweizer Währung weiterhin unter Druck bleiben, und welche Handlungsoptionen ergeben sich daraus für die Nationalbank?
Martin Janssen: «Es scheint, dass die Schweizer Nationalbank gute Arbeit geleistet hat. Die überraschende Aufhebung der Untergrenze des Schweizer Frankens hat die Anziehungskraft der Landeswährung geschwächt. Aber wenn die SNB weiterhin Exporte subventioniert, wofür vieles spricht, hat sie nicht so viele Handlungsoptionen. Sie wird weiterhin im Devisenmarkt aktiv bleiben und vielleicht die Negativzinsen noch weiter senken.»
Wie beurteilen Sie die Möglichkeit, dass die Negativzinsen noch weiter ins Minus rutschen, und welche Konsequenzen würden sich daraus ergeben?
Martin Janssen: «Es ist davon auszugehen, dass die Leitzinsen in nächster Zeit nicht steigen werden. Man muss aber auch vermuten, dass die Zinsen nicht mehr viel weiter sinken werden, weil sonst Gegenkräfte ins Spiel kommen, welche den Bankensektor destabilisieren könnten. Soweit wird die SNB nicht gehen. Ich sehe die Grenze bei minus 1 Prozent, minimal bei minus 1.25 Prozent pro Jahr.»
In der Herbstsession entschied sich der Nationalrat in der Schlussabstimmung für einen «Inländervorrang light», um den Verfassungsartikel über die selbständige Steuerung der Zuwanderung («Masseneinwanderungsinitiative») umzusetzen. Das steht zwar im Einklang mit den Bilateralen Verträgen, ist aber nach Meinung vieler Experten nicht verfassungskonform. Wie geht es hier weiter?
Martin Janssen: «Der Beschluss des Nationalrates, den Verfassungsartikel über die selbständige Steuerung über einen ‚Inländervorrang light‘ umzusetzen respektive eben nicht umzusetzen, wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert. Eine grosse Umfrage bei mehr als 10‘000 Stimmberechtigten ergab eine Ablehnungsquote von fast 70 Prozent. Ich gehe von folgendem Szenario aus: Der Ständerat wird das Gesetz etwas verschärfen und Massnahmen vorsehen, die der Bundesrat bei anhaltend hoher Einwanderung beschliessen kann. Ein Referendum dürfte dann kaum ergriffen werden, weil damit nur der heutige Status quo wieder hergestellt würde. Wahrscheinlicher scheint mir, dass die Zuwanderung weiter bei mehr als 100‘000 Personen pro Jahr liegen wird, das heisst mehr als 60‘000 Personen aus der EU und mehr als 40‘000 Migranten. Der Bundesrat wird sich nicht getrauen, griffigere Massnahmen gegen die Interessen der EU durchzusetzen. Das Volk wird dann aber aufbegehren. In ein bis zwei Jahren dürfte eine neue Initiative lanciert werden, die eine direkte Umsetzung des Verfassungsartikels verlangen wird. Diese Initiative würde wohl deutlich angenommen werden. Der Konflikt mit der EU wird dann zwar verstärkt. Aber weder die Schweiz und schon gar nicht die EU, die in den kommenden Jahren weiter geschwächt werden wird, werden die verbleibenden bilateralen Verträge künden resp. nicht wieder neu abschliessen wollen, weil sie allen nur Vorteile bringen.»
Die stete Zuwanderung aus Europa hat bisher den Bausektor gestärkt. Ergibt sich nun eine gewisse Absturzgefahr, wenn die Zuwanderung eingeschränkt wird?
Martin Janssen: «Es ist davon auszugehen, dass sich ein Rückgang der Zuwanderung direkt in einer Abkühlung im Bausektor niederschlagen würde. Von einer Absturzgefahr würde ich aber nicht sprechen. Die Baufirmen sind flexibel: So rasch die Firmen ihre Kapazitäten erhöhen konnten, so rasch werden sie diese wieder herunterfahren. Untergehen werden dabei wohl nur jene Firmen, die zu wenig Kapital haben und erst am Ende des Aufschwungs entstanden sind.»
Ergäben sich vielleicht weitere Konsequenzen für den Bausektor und Immobilienmarkt?
Martin Janssen: «Ich sehe mittel- oder längerfristig eine andere Konsequenz für den Immobilienmarkt: Wegen der künstlich tief gehaltenen Zinsen ist man heute bereit, für Kapitalgüter, auch für Immobilien, sehr viel zu bezahlen. Das ist kein langfristiges Gleichgewicht. Wenn wir zum Gleichgewicht mit höheren Zinsen und höheren Kapitalkosten zurückkehren, wird es zu grösseren Verwerfungen im Bau- und Immobilienmarkt kommen. Erinnerungen an die frühen 1990er-Jahre werden dann wieder wach: hohe Inflationsraten, leerstehende Fabrikgelände, Arbeitslosigkeit, Milliardenverluste in den Bankbilanzen. Nach einigen Jahren der Anpassung werden zwar neue Immobilienprojekte zu tieferen Preisen und höherer Qualität in Angriff genommen werden können. Aber man wird sich dann fragen, ob es sich gelohnt hat, so viele Fehlinvestitionen zu tätigen, um den Strukturwandel in der Schweiz zu bremsen.»