Ist das klassische Grossraumbüro ein Auslaufmodell?

Die Corona-Krise hat während der Lockdown-Phase im Frühling den Home-Office-Modus stark aufgewertet. Bereits jetzt steht fest, dass das Home-Office auch in Zukunft zu einem integralen Bestandteil des Arbeitslebens wird. Was bedeutet dies konkret für Arbeitnehmende und Arbeitgebende? Gewinnt die Arbeit dadurch mehr Effizienz? IAZI-Quarterly hat sich mit Prof. Dr. Marc K. Peter von der FHNW Olten und Valérie Savoy, Partnerin bei der Future Work Group, unterhalten.

IAZI-Quarterly: Mit der Corona-Krise ist der Home-Office-Modus, von dem man früher schon gesprochen hat, für viele Arbeitnehmer zur Realität geworden. Viele wünschen auch nach der Pandemie im Home-Office weiterzuarbeiten. Sind Sie erstaunt von dieser Entwicklung?

Nein, wir sind von dieser Entwicklung grundsätzlich nicht überrascht. Das Home-Office ist seit längerer Zeit ein oft angesprochenes Thema. Jedoch vielmehr seitens der Mitarbeitenden als seitens der Unternehmen. Viele Unternehmen haben sich gegen eine Einführung von Home-Office gewehrt, weil meist das Vertrauen seitens der Arbeitgebenden fehlt. Aus diesem Grunde wurde das Home-Office, speziell in Schweizer Unternehmen – die Situation in globalen, grösseren Unternehmen ist leicht anders – eher als ein Privileg betrachtet und i.d.R. max. zwei bis drei Mal im Monat erlaubt.

War diese Entwicklung voraussehbar?

Aufgrund der diversen Studien zum Thema Arbeitswelt 4.0 und insbesondere aufgrund der Ergebnisse des letztjährigen Forschungsprojektes der FHNW Hochschule für Wirtschaft in Zusammenarbeit mit der Future Work Group war uns klar, dass die Arbeitswelt 4.0 auch im Zusammenhang mit dem Home-Office an Wichtigkeit zunehmen würde. Doch zum Zeitpunkt der Studie gaben lediglich 12% der teilnehmenden Unternehmen an, ein fortschrittliches Stadium der Arbeitswelt 4.0 erreicht zu haben. Eine rasche Entwicklung war somit nicht absehbar. Die Corona-Krise mit dem Lockdown war lediglich ein Katalysator und hat alles beschleunigt. Viele Unternehmen beschäftigen sich erst jetzt, in der noch jungen post-Corona Krise, mit dem Thema Home-Office und starten entsprechende interne Projekte.

Sie rechnen damit, dass sich der Anteil der Mitarbeitenden im Home-Office über alle Industrien hinweg verdreifacht. Warum dieser hohe Anteil?

Wir haben gesehen, dass bis 90% der Mitarbeitenden von Unternehmen im Dienstleistungssektor während der Corona-Krise das Home-Office genutzt haben. Aufgrund der Werte von 2019 und im Mix über alle Branchen hinweg wäre so langfristig eine Verdreifachung möglich.

Welche Vorteile bietet denn das Home-Office für Mitarbeiter eines Unternehmens, welche der Büroplatz offenbar nicht bietet?

Das Home-Office bietet diverse Vorteile, wie zum Beispiel – je nach Situation – einen ruhigeren Arbeitsort zur Ausführung von Arbeiten mit hoher Konzentration. Desweitern gewinnen die Mitarbeitenden im Durchschnitt 1 Stunde mehr Freizeit; dies alleine durch den Wegfall des Arbeitswegs. Und schlussendlich verflüssigt sich die Problematik von Wohnort und Arbeitsort; d.h., dass das Leben und ggf. die Familienplanung individualisierter und flexibler gestaltet werden kann.

Gibt es auch mögliche Nachteile im Home-Office, die jetzt vielleicht noch nicht so deutlich zu Tage kommen?

Ja, es gibt auch Nachteile: Das Privat- und Berufsleben wird vermehrt vermischt; es wird schwieriger, eine klare Linie zu ziehen. Daraus entwickeln sich Risiken wie fehlende, festgelegte Arbeitszeiten; zunehmende, unbewusste Einbindung der Mitbewohner/innen im Berufsleben, Mitspracherecht der Arbeitnehmerinnen im eigenen Wohnheim durch Untervermietung eines Bürozimmers etc. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass das Home-Office eine gewisse Selbstdisziplin erfordert. Dies können nicht alle Mitarbeitenden gleich gut; so erliegen einige der Versuchung, andere Tätigkeiten auszuführen, statt im Home-Office zu arbeiten. Home-Office will gelernt und geübt sein. Dies bedingt auch einen neuen Führungsstil seitens der Arbeitgebenden bzw. der Vorgesetzten.

Wird es auch gewisse Anforderungen brauchen, die ein Home-Office zu erfüllen hat in punkto Einrichtung, Bürotechnik, Abgrenzung innerhalb der Wohnung?

Ja, hierzu gelten dieselben Richtlinien, wie diejenigen des Büros am Geschäftsort, d.h. die ergonomischen Richtlinien müssen auch im Home-Office gewährleistet werden. Dies hauptsächlich, um mittel- bis langfristige gesundheitliche Beschwerden zu verhindern. Unsere Studie zeigt übrigens, wie wichtig dies für die Mitarbeitenden ist. Licht, Klima und Akustik sind wichtige Anforderungen an die Arbeitswelt 4.0.

Ist es denkbar, dass auch viele Kadermitarbeiter im Home-Office arbeiten würden, teilweise oder ganz, und wäre das auch für einen CEO denkbar und die übrigen C-Kader?

Ja, es ist durchaus denkbar, dass sowohl Kadermitarbeitende als auch CEOs und übrige C-Kader im Home-Office arbeiten. Dies war auch der Fall während der Corona-Krise. Diese Arbeitsweise fordert jedoch wiederum mehr agile Unternehmenskulturen und Führungsstile. Wir sind uns daran gewöhnt, die Chefin und den Chef sehen zu wollen; hier müssen die Kommunikation und insbesondere die Kommunikationsformate und -kanäle der Situation angepasst werden.

Wird es vielleicht für die Mitarbeitenden im Home-Office schwieriger sein, sich im Betrieb zu integrieren?

Nein, dies muss nicht sein. Es hängt jedoch von unterschiedlichen Voraussetzungen ab. Zum einen sind die Einführung in die «Collaboration-Tools» sowie klare Regeln der Zusammenarbeit wichtig. Denn ohne diese können neue Teammitglieder weder effizient noch effektiv arbeiten. Zum anderen sind sowohl der regelmässige Austausch mit Vorgesetzten und mit dem Team von grosser Wichtigkeit. Mit den heutigen Technologien kann auch der visuelle Kontakt mittels Videokonferenzen gefördert werden. Das heisst jedoch nicht, dass bestimmte physische Meetings nicht dennoch notwendig sind, doch die Häufigkeit sinkt.

Braucht es dafür neue Arbeitsmodelle?

Nein, denn in den letzten Jahren wurden bereits viele neue Arbeitsmodelle entwickelt. In vielen Unternehmen werden sie jedoch zu wenig eingesetzt. Es geht also viel mehr darum, das Angebot mit den bestehenden Arbeitsmodellen zu erweitern.

Wie wird sich die Kommunikation verändern?

Die Kommunikation wird sich dahingehend verändern, dass sie wieder viel mehr schriftlich in Chats (Bsp. Teams) erfolgen wird. Dadurch werden heutige Kommunikationsmittel (wie E-Mail) für den internen Unternehmensaustausch vermehrt wegfallen. Auch die Struktur der Inhalte wird sich ändern, denn die Nachrichten werden kürzer und informeller.

Wird denn jetzt die Abgrenzung zwischen Privatleben und Arbeitszeit nicht verwischt werden durch den Home-Office-Modus?

Die Versuchung ist sicherlich gross, doch das Arbeitsrecht in der Schweiz gibt diesbezüglich klare Vorgaben, die seitens Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden einzuhalten sind. Es wird jedoch für die Arbeitgebenden schwieriger, sicherzustellen, dass diese Gesetzesvorgaben tatsächlich eingehalten werden. Deshalb sind ein Reglement sowie die Schulung der Mitarbeitenden bezüglich Home-Office umso wichtiger.

Steuern wir nicht in Richtung Zweiklassen-Gesellschaft innerhalb des Arbeitslebens? Zum einen solche, die sich Home-Office leisten können – Büromitarbeiter, Architekten, Selbständige etc. – und zum anderen solche, die zwingend am Arbeitsplatz präsent sein müssen, z.B. Detailhandel, Verkauf, Industrie, Handwerker?

Nein, das denken wir nicht, denn es wollen auch nicht alle im Home-Office arbeiten. Die Menschen suchen sich ihren Beruf in der Regel nicht nur in Abhängigkeit ihrer Fähigkeiten aus, sondern auch aufgrund ihrer Bedürfnisse. Menschen, die einen regelmässigen sozialen Kontakt brauchen, waren während der Corona-Krise im Home-Office nicht glücklich.

Gewinnen Mitarbeitende durch das Home-Office mehr Selbstverantwortung?

Ja, grundsätzlich müssen sie mehr Selbstverantwortung übernehmen. Dies fordert jedoch eine Befähigung seitens der Unternehmen und Führungskräfte, aber auch eine Bereitschaft seitens der Mitarbeitenden. Als Grundlage für mehr Selbstverantwortung ist eine Anpassung der Stellenprofile (die altbewährte AKV-Regel, sprich Definition der Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen) mit klaren Verantwortungen und Kompetenzen.

Sehen Sie noch eine Zukunft für das klassische Grossraumbüro?

Die Büroräumlichkeiten der Zukunft werden neue Funktionen anbieten. Die Tendenz geht dahin, dass sowohl die klassischen Grossraumbüros als auch die Einzelbüros verschwinden werden.

Wie werden die Büroräume der Zukunft aussehen?

Wir sehen bereits jetzt, nach dem Lockdown, dass sich Unternehmen überlegen, wie sie ihre Büroräumlichkeiten in der Zukunft gestalten werden. Dafür wird es viel mehr Büroräumlichkeiten mit «shared desks» sowie diverse Austauschräume für unterschiedliche Sitzungszwecke wie Stand-up-Meetings, Projektmeetings, Videokonferenzen, Webinare etc. geben. Die Studie der FHNW und Future Work Group zeigt, dass neben dem Home-Office auch Mobile Working, Co-Working und Desk-Sharing als Arbeitsmodelle gefragt sind.

Die Telefonie- und Kommunikationssoftware hat durch die Corona-Krise einen rechten Anstoss gekriegt. Braucht es punkto Qualität hier noch weitere Entwicklungen?

Ja, auf jeden Fall: Zum einen muss die Stabilität, Performance und Sicherheit der Infrastruktur stabiler und verstärkt werden. Während der Corona-Krise kam es vor, dass Haushalte mit zwei Personen zur gleichen Zeit Videokonferenzen durchführen. Dabei stellt sich heraus, dass sowohl beim einen als auch beim anderen die Qualität der Verbindung nicht sichergestellt werden konnte.

Gibt es nach Ihrer Ansicht auch einen stärkeren «Case» für Collaboration- und Projektmanagement-Software?

Auch hier denken wir, dass es einen «Case» gibt. Doch die Umstellung auf Collaboration- und Projektmanagement-Software ist noch etwas schwierig. Auch wenn die Software ziemlich genau so aussieht wie das Papierformat, ist die Anwendung der Software noch für viele umständlich. Dies erfordert entsprechende Einführung, Schulungen und Gewohnheit. Insbesondere die älteren Generationen sind herausgefordert, nicht nur die neuen Technologien kennen zu lernen, sondern auch eine neue Arbeitsweise.

Bisher wollten Arbeitnehmer ziemlich nahe am Arbeitsplatz wohnen und haben ihren Wohnort auch so ausgesucht, dass er nicht allzu langes Pendeln vom Wohnort zum Arbeitsort verursachen würde. Sehen Sie für die Zukunft eine Umkehr dieses Trends?

Ja und nein. Grundsätzlich denken wir jedoch nicht, dass es zu einer Umkehr dieses Trends kommt. Dies hängt jedoch auch davon ab, wie attraktiv die Städte bleiben und in welchem Rahmen sich unsere Lebensformate ändern. Die «Digital Villages» sind durchaus am Kommen.

Könnten Sie uns «Digital Villages» erläutern?

Digitale Dörfer sind, wie es der Name sagt, Dörfer in der ländlichen Region, welche die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen und so für Arbeitnehmende und Arbeitgebende im Kontext der bekannten «Stadtflucht» wieder attraktiver werden. Hierzu brauchen wir moderne Datenautobahnen, welche die Versorgung durch schnelles Internet sicherstellen; auch das Angebot an Co-Working in der ländlichen Region unterstützt dieses Konzept.

Ist die Schweiz gerüstet für diese Entwicklung?

Nein, hier gibt es noch viel zu tun – gerade zu den eben genannten Themen «Führen im Home-Office», Arbeitsrecht, Internetkapazitäten in der ländlichen Region etc.

Michel Benedetti
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