Klimaschutz im Immobiliensektor: Haben die Gerichte das letzte Wort?

Der Klimaschutz dürfte vermehrt an die Gerichte delegiert werden. Bereits heute berufen sich Kläger*innen im Kampf um strengere klimapolitische Massnahmen zunehmend auf verfassungsmässige Grundrechte statt auf spezifische Gesetze. Nach viel beachteten Urteilen ausländischer Verfassungsgerichte gibt es auch in der Schweiz Impulse, den Klimaschutz in der Verfassung zu berücksichtigen. Dieser Trend stellt den Immobiliensektor vor offene Fragen.

Die Ablehnung des nationalen CO2-Gesetzes im Juni hat bei einem grossen Teil der Gesellschaft das Vertrauen in traditionelle politische Instrumente geschwächt. Wie soll man Klimaschutz betreiben, wenn ein breit abgestützter Kompromiss nach jahrelanger Debatte an der Urne scheitert? Europaweit scheint die Antwort für viele in der Justiz zu liegen.

So war die Überraschung unter Staatsrechtler*innen gross, als das deutsche Bundesverfassungsgericht eine Klage deutscher Klimaaktivist*innen gegen das neue Klimaschutzgesetz teilweise gutgeheissen hat. Die Bundesregierung muss nun bis Ende 2022 weiterführende Massnahmen gesetzlich verankern. Die Freiheitsrechte künftiger Generationen sowie die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Berufsausübung und Eigentum würden andernfalls laut Gericht zu stark beschnitten. Das Risiko sei zu gross, dass junge Bürger*innen die Hauptlast des Klimaschutzes werden tragen müssen. Zudem wird im deutschen Grundgesetz die Verantwortung für künftige Generationen und deren Lebensgrundlagen explizit erwähnt.

Der Schweiz steht ebenfalls ein potenziell wegweisendes Urteil bevor: Die selbsternannten Klimaseniorinnen werfen dem Staat vor, sie ungenügend gegen die Erderwärmung und deren Folgen zu schützen und damit ihr Recht auf Leben zu verletzen. Das Bundesgericht hat eine entsprechende Klage zurückgewiesen, worauf die Klägerinnen das Urteil an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzogen. Dieser hat der Frage nun erhöhte Dringlichkeit eingeräumt.

Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit

Dass die Gerichte in die Rolle von Klimaschützern schlüpfen könnten, ist auf allen institutionellen Ebenen in der Schweiz zu beobachten. Die Grundlage für Klagen im Namen des Klimas sind in der Verfassung verankerte Rechte. Die nationale Gletscherinitiative fordert zum Beispiel, dass das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 in die Bundesverfassung aufgenommen wird. Denn mit der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens hat sich die Schweiz zu einem Treibhausgasausstoss von netto null verpflichtet. Der Bundesrat hat im August einen direkten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative veröffentlicht. Eine Forderung der Initiative, bis 2050 grundsätzlich alle fossilen Brennstoffe zu verbieten, unterstützt er aber nicht. Stattdessen soll deren Verbrauch stark reduziert werden. Doch auch die Regierung plädiert für die Aufnahme der bereits existierenden Ziele in die Verfassung. Falls die Initiative oder der Gegenvorschlag Erfolg an der Urne haben, gäbe es im Falle neuer Klimagesetze jedoch kaum juristischen Rekurs: Die Schweiz kennt auf nationaler Ebene keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Eine solche wurde mit der Gründung des modernen Bundesstaates 1848 ausgeschlossen – eben gerade, um eine Erhebung der richterlichen Gewalt über die gesetzgebende Bundesversammlung zu verhindern. Seit jeher ist dies Anstoss staatsrechtlicher Debatten. In Europa teilen fortschrittliche Demokratien ohne diktatorische Vergangenheit dieses Merkmal mit der Schweiz.

Bern sagt ja zum Klimaschutz in der Verfassung

Die Kantone hingegen kennen eine Verfassungsgerichtsbarkeit in unterschiedlicher Gestalt. Im Kanton Bern zum Beispiel werden Gerichte per Verfassung dazu verpflichtet, widersprüchliche Erlasse nicht anzuwenden. Just am 26. September haben die Stimmberechtigten des Kantons Bern beschlossen, die Verfassung mit einem Klimaschutz-Artikel zu ergänzen. Denn in der Präambel der Kantonsverfassung ist die Verantwortung gegenüber der Schöpfung sowie ein Artikel zur Erhaltung der natürlichen Umwelt für künftige Generationen enthalten – auf ebendiese Rechte künftiger Generationen stützte sich das deutsche Verfassungsgericht bei seinem historischen Urteil. In Bern sind nun sowohl generationsübergreifende Verantwortung als auch explizit Klimaschutz in der Verfassung verankert. Der Druck auf die Legislative ist also gross, zukünftige Gesetze für den Klimaschutz so streng zu gestalten, dass sich die Deutungshoheit in Sachen Klimapolitik nicht stärker hin zur Justiz verschiebt.

Neue Gesetze dürfen nicht im Widerspruch zum Klimaschutzartikel stehen, andernfalls können diese gerichtlich angefochten werden. Die erste Probe des neuen Verfassungsartikels steht bereits in der kommenden kantonalen Session an: Die Beratung der Revision des Energiegesetzes. Damit versucht der Kanton Bern bereits zum zweiten Mal, die Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich (MuKEn) umzusetzen. Nach einer Niederlage an der Urne im ersten Versuch 2019 wurde die Vorlage vereinfacht und setzt vermehrt auf Anreize statt Verbote. Diese zweite Revision tangiert den Immobiliensektor nun weit weniger stark. Auf ein Verbot von Ölheizungen wird beispielsweise verzichtet. Ob dieser Kompromiss unter dem neuen Verfassungsartikel noch tragbar ist, wird sich zeigen.

Ein unsicherer Weg für die Immobilienbranche

Der Gebäudepark als einer der grössten Treibhausgasverursacher und damit die Bau- und Immobilienbranche könnten stark von solch verfassungsmässigen Klimaschutzartikeln betroffen sein. Rund 24 Prozent der Treibhausgasemissionen in der Schweiz werden gemäss dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) durch die Gebäude verursacht. Während aber etwa die Emissionen des Verkehrs jüngst nur leicht reduziert werden konnten, erreichte der Gebäudebereich dank effizienten Neubauten und Sanierungen bereits eine Senkung um ein Drittel gegenüber dem Niveau von 1990. Trotzdem besteht immer noch grosser Investitions- und Renovationsbedarf. Dies illustriert das grosse Potenzial, aber auch den politischen Druck, der bei verschärften Klimazielen auf dem Sektor lasten wird.

Der Kanton Bern steht nicht alleine mit dem Verfassungsartikel zum Klimaschutz da. Schweizweit wurden bereits Schutzartikel diskutiert, oder wie im Kanton Genf implementiert. Wir verfolgen die Entwicklungen in der Immobilienpolitik laufend und bieten Ihnen in unserem Polit-Monitoring einen kontinuierlichen Überblick über offene Geschäfte. Um mehr über klimapolitische Vorstösse in Raumplanung und Bau zu erfahren, laden wir Sie herzlich zu unserem Fachseminar (Klima)Wandel in der Immobilienpolitik am 29. November in Zürich ein. In diesem halbtägigen Seminar werden verschiedene Expert*innen aus der Wissenschaft sowie Fachpersonen aus den Bereichen Raumplanung und Bau anwendungsorientiertes Wissen zur Klimapolitik in der Siedlungsentwicklung, Architektur- und Baubranche vermitteln. Das Seminar wendet sich an Spezialist*innen aus der Immobilien-, Finanz- und Baubranche, Mitarbeiter*innen der kantonalen und kommunalen Verwaltungen und alle weiteren an den Themen interessierten Personen.