Neue Technologien auf dem Prüfstand

Die digitale Welle ist definitiv im Immobiliensektor angekommen. IAZI-Quarterly wollte vom Technologieexperten Dr. Michael Mayer wissen, inwiefern die klassischen Arbeitsprozesse in der Immobilienbewertung von den neuen Technologien profitieren.

IAZI-Quarterly: Die Schlagworte Machine Learning, Big Data oder künstliche Intelligenz gehören heute zum Marketing-Vokabular der Digitalunternehmen. Doch wie lässt sich hier der Marketing-Hype von den wirklichen Innovationen trennen?

Michael Mayer: Tatsächlich schreiben sich viele Unternehmen – vom Startup bis zum global tätigen Konzern – häufig dieses Dreigespann aus Machine Learning, Big Data und AI auf die Flagge. Man will ja nicht zum alten Eisen gehören. Doch wo liegt der wirkliche Mehrwert für uns Kunden? Natürlich ist heute Online-Shopping sehr anwenderfreundlich. Doch dafür braucht es keine dieser drei Kerntechnologien. Vielmehr sind in diesem Beispiel eine praktisch zu bedienende Oberfläche und im Hintergrund eine gute Datenbankstruktur erforderlich. Eine andere Frage: Sind dank Big Data die Züge pünktlicher geworden? Die Lebensmittel gesünder? Der Alltagsstress kleiner? Die Immobilienbewertungen präziser?

Bleiben wir beim letzten Punkt: Nur weil ich viele Daten sammle und moderne Techniken zur Modellierung anwende, wird mein Immobilienbewertungsmodell nicht präziser. Der zentrale Punkt ist die Qualität und Aussagekraft der Daten sowie ein gutes GIS (Geographisches Informationssystem). Transaktionspreise sind die wichtigsten Komponenten einer automatisierten Immobilienbewertung. Bei solchen Datenvolumen müsste man allerdings weniger von Big Data, sondern vielleicht von Smart Data sprechen.

Die hedonische Bewertung ist ja durch ihre Algorithmen eine Frühform von Maschinellem Lernen.

Ja, hinter den hedonischen Bewertungen steckt häufig die lineare Regression bzw. das Verfahren der kleinsten Quadrate. Dieses wurde vor mehr als 200 Jahren u.a. von Gauss eingeführt und kann als Mutter des Maschinellen Lernens aufgefasst werden. So gesehen zählt die hedonische Bewertung tatsächlich zum Maschinellen Lernen. Egal, ob mit komplexen neuronalen Netzen Bilder und Texte erkennt werden sollen oder ob mit linearer Regression hedonische Bewertungsmodelle berechnet werden; die Zutaten sind immer dieselben: Daten, Programmierung und das Fachwissen von Spezialisten. Wenn jemand seine Berechnung auf unterschiedliche Algorithmen stützt, ist das nur ein Element in einem ansonsten identischen Prozess. Das ist im Prinzip nichts wahnsinnig Bahnbrechendes.

Wie hat sich denn Maschinelles Lernen weiterentwickelt und warum erleben wir gerade heute einen solchen Hype?

Hier gibt es drei Faktoren, die zusammengespielt haben. Erstens die schier unendliche Datenmenge, die durch das Internet elektronisch verfügbar gemacht wird. Zweitens die Entwicklung von extrem leistungsstarker Hardware, die bereits heute über die Cloud einfach und relativ günstig verfügbar ist. Damit können für einige Franken pro Stunde Datenmengen modelliert werden, für die es noch vor wenigen Jahren ganze Rechenzentren gebraucht hätte. Und drittens die Neu- und Weiterentwicklung von Algorithmen des Maschinellen Lernens. Hier sind insbesondere komplexe, so genannte neuronale Netze gemeint. Und diese Entwicklung läuft unter dem Namen Deep Learning. Deep Learning hat insbesondere die Bereiche der Bild- und Textverarbeitung revolutioniert und wird eines Tages die Verbreitung von selbstfahrenden Autos ermöglichen.

Wirkt sich denn Maschinelles Lernen auch auf die hedonischen Bewertungsmodelle für Immobilienschätzungen aus?

Der Vorteil der hedonischen Methode gegenüber modernen Methoden des Maschinellen Lernens steckt im Begriff «hedonisch»; hedonisch kommt aus dem Griechischen und umfasst alles, was einem Genuss oder Freude bereitet. Der Hedonist ist ein reiner Genussmensch. Wieviel Geld ist mir ein zusätzliches Badezimmer oder ein grosser Balkon wert, um meinen Genuss zu stillen? Diese Fragen kann man mit klassischen Regressionstechniken wie der linearen Regression sofort beantworten. Moderne Techniken des Maschinellen Lernens hingegen liefern häufig schwarze Boxen, in die man alle Angaben hineinfüttert und die einem dann – ohne jegliche Begründung – einen Wert ausspucken. Dies ist insbesondere bei unplausiblen Bewertungen problematisch: Weshalb sinkt der Wert, wenn die Wohnfläche um einen Quadratmeter erhöht wird? Weshalb verändert sich die Bewertung um 10%, wenn das Haus zehn Meter verschoben würde?

Im Moment wird heiss an Möglichkeiten geforscht, um Black-Box-Modelle besser interpretieren zu können. Es gelingt immer besser, daraus zumindest graue Boxen zu machen. So werden moderne Techniken schliesslich auch in denjenigen Bereichen nützlich werden, in denen Interpretierbarkeit von zentraler Bedeutung ist, beispielsweise der Ökonomie.

Sie sind auch Mitautor einer Studie, wo die klassischen Methoden für Immobilienbewertungen mit machine learning (neural networks)-Methoden vergleichen wurden. Was sind die Erkenntnisse?

Wir haben in dieser empirischen Arbeit drei klassische Modelliertechniken, u.a. die lineare Regression, und drei moderne Modelliertechniken, d.h. neuronale Netze, Gradient Boosting und Random Forests, verglichen, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Treffgenauigkeit, sondern auch hinsichtlich ihrer «Sprunghaftigkeit». Damit meine ich folgendes: Immobilien werden häufig nicht nur bei ihrem Verkauf bewertet. Ein Objekt wird normalerweise in regelmässigen Abständen mit den aktuellen hedonischen Modellen immer wieder neu berechnet. Grund dafür können die Risikoüberlegungen seitens der Kreditgeber sein. Auslöser der letzten Finanzkrise waren ja schliesslich Bewertungen, die das echte Risiko von komplexen Finanzprodukten nicht mehr wiedergaben.

Wir haben gemessen, wie gross solche Sprünge durch Wiederbewertungen typischerweise ausfallen. Kleinere Sprünge sind durchaus erwünscht und lassen sich durch Marktbewegungen und Altersentwertung begründen. Niemand möchte aber, dass seine Immobilie vom einen Quartal zum nächsten 10% an Wert verliert, nur um im nächsten Quartal wieder 10% zu gewinnen. Unsere Studie hat gezeigt, dass die modernen Verfahren des Maschinellen Lernens zwar präzisere Ergebnisse liefern, aber zu deutlich grösseren Sprüngen bei Wiederbewertungen neigen. Im Jargon spricht man von einem sogenannten «Bias-Variance»-Tradeoff. Je genauer ein Modell, desto höher seine «Sprunghaftigkeit». Werden also hedonische Modelle für Wiederbewertungen eingesetzt, so sind die klassischen Verfahren also durchaus interessant.

Gibt es denn auch Vorteile von Machine Learning für die Immobilienbewertungen?

Speziell neuronale Netze sind unheimlich flexibel: Es ist damit möglich, nicht nur Zahlenwerte wie die Anzahl der Zimmer, sondern gleichzeitig auch Bild- und Textdaten in die Immobilienbewertung einfliessen zu lassen. Etwas, das mit linearer Regression unmöglich ist.

Inwiefern könnte Big Data die Bewertungsqualität verbessern?

Die Schweiz ist klein: Selbst wenn wir von jedem Gebäude der Schweiz die wichtigsten 20 Preistreiber wie Anzahl Zimmer, Nutzfläche, Baujahr etc. sammelten, hätten diese Daten auf einem simplen Memorystick Platz. Big Data geht eher Richtung starkes GIS, allenfalls für gewisse Anwendungen auch Bild- und Videodaten.

Wie sehen Sie die Weiterentwicklungen dieser Technologien in den nächsten Jahren? Stehen wir erst am Anfang dieser Entwicklung oder mittendrin?

Es gibt den berühmten Spruch von Niels Bohr: «Prediction is very difficult, especially if it’s about the future*» Um trotzdem eine Einschätzung zu machen: In den Bereichen des Visual Computing (Modellierung mit Bild-/Videodaten) und des Natural Language Programming (Modellierung mit Text-/Audiodaten) sind wir erst am Anfang. Hier werden die Möglichkeiten und Investitionen in den nächsten Jahren gigantisch sein. Man denke beispielsweise an das Rennen um die selbstfahrenden Autos. In anderen Bereichen wird vermutlich bald eine Phase der Ernüchterung kommen, da die Vorteile von modernem Maschinellem Lernen und Big Data dort weitaus weniger deutlich sind. Konkret: Ob ein Modell eine Fehlerquote von 10% statt 11% hat, fällt für die meisten Anwender nicht ins Gewicht. Hingegen ob ein Auto selbständig fahren kann oder nicht, eher schon.

*Deutsch: Voraussagen sind sehr schwierig, besonders über die Zukunft. 

Michel Benedetti
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