Sag mir, wo die Wiesen sind

Im Regionalzug, der entlang den rechtsufrigen Zürichsee-Gemeinden fährt, ist Zersiedlung spürbar. Eigentlich ist es ein einziges Band von Häusern, das an einem vorüberrauscht. Wer hier aufgewachsen ist, vermisst wohl hier und dort die unbebauten Wiesen, die den Kindern von damals die schönsten Abenteuer-Spielplätze offerierten. Sichtbare Zersiedlung präsentiert auch eine fotografische Langzeitbeobachtung der Agglomerationsstadt Schlieren während 15 Jahren durch die Hochschule der Künste. Hier entstehen auf der grünen Wiese Wohnüberbauungen im Zeitraffer. 73 Prozent der in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung leben in den Agglomerationen, welche aus Kern- und Gürtelgemeinden bestehen. Seit 1995 ist die Einwohnerzahl der Schweiz um 18 % von 7.0 auf 8.3 Millionen gestiegen. Die 9-Millionen-Schwelle soll gemäss den aktuellen Prognosen des BfS Ende 2023 erreicht werden und 2035 soll die Zahl schon gegen 10 Millionen tendieren.

Wer angesichts solcher Zahlen die unweigerliche Verbauung letzter Grünräume im Mittelland und die Gefährdung der alpinen Freiräume befürchtet, dem helfe folgendes Gedankenspiel, das sich der Think Tank «Avenir Suisse» ausgedacht hat. Setzt man New York an die Stelle von Zürich, London an die Stelle von Basel, Berlin an die Stelle von Bern, Paris an die Stelle von Genf und Barcelona an die Stelle von Lugano, würde die Schweiz alleine mit diesen attraktiven Metropolen der westlichen Welt auf 24 Mio. Einwohner kommen. In den restlichen Gebieten hätte es damit enorm viel Platz für die Pflege traditioneller, von «Dichtestress» verschonter Lebensstile, für reichlich Agrarland, für Naherholungsgebiete und für dünn besiedelte Berglandschaften. Solche Überlegungen erinnern an die kühnen Visionen des Architekten Corbusier.

Einfrieren des Status Quo

Solche Gedankenspiele helfen, ideologisch verhärtete Positionen etwas zu relativieren. Aber mit der gelebten Wohnrealität hat das wenig zu tun. Jeder sucht insgeheim sein kleines, ruhiges Idyll mit Gartensitzplatz. Doch ist eine Annäherung an diesen Wunsch möglich, ohne die Schweiz in einen polemisch karikierten Siedlungsbrei zu verwandeln? Zumindest an der Urne hat die Schweizer Bevölkerung schon ein Zeichen gesetzt. 2012 gab sie der Zweitwohnungsinitiative, die den Anteil von Zweitwohnungen landesweit auf 20 Prozent pro Gemeinde beschränken wollte, das Placet. Zudem ist die Teilrevision des Raumplanungsgesetztes seit 2014 in Kraft. Das revidierte Gesetz lässt nur noch während 15 Jahren unüberbaute Reserven an Bauzonen zu. Trotz diesen Verbesserungen in der Raumplanung will die neue Zersiedlungsinitiative («Zersiedelung stoppen – für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung») einen Schritt weitergehen. Sie verlangt, dass es nur noch neue Bauzonen geben soll, wenn woanders mindestens eine gleich grosse Fläche ausgezont wird. «Als nicht zielführend» bezeichnet dies der Städte- und Gemeindeverband, der sich bereits gegen die Initiative ausgesprochen hat. Eingeschränkt würden dadurch vor allem Kantone und Gemeinden, die haushälterisch mit dem Boden umgegangen sind.

Gemäss einer Analyse von IAZI gesellen sich bei einer Annahme der Initiative zudem Effekte dazu, die das genaue Gegenteil der Initiative erreichen könnte. Dazu ein paar Fakten. Gemäss der Bauzonenstatistik Schweiz 2017 gibt es auf der gesamten Fläche der Schweiz noch 5.6 % Bauzonen, und davon unbebaut sind gerade noch 17.4 %. Geographisch gesehen (siehe Grafik «Wieviel Bauland zur Verfügung steht 2017») verfügt ein bereits stark urbanisierter Kanton wie Basel (109 m2 Fläche pro Einwohner) um fünf Mal weniger Fläche als die Kantone Wallis und Jura. Noch drastischer sind die Fakten auf Gemeindeebene. Wenn jede Gemeinde ihre Bauzonen von jetzt an vollständig ausschöpfen würde, wären sie in Wallisellen bereits in einem Jahr erschöpft, und zwei Jahre würde es in Zürich oder Opfikon dauern. Hingegen könnten noch 100 Jahre durchs Land gehen, bis Davos ihre Reserven ausgeschöpft hätte (siehe Grafik «Platzreserven der Gemeinden: Zeitpunkt der Ausschöpfung»).

Dazu gesellt sich noch ein preistreibender Effekt. Wenn das Angebot an Bauland nicht mehr flexibel auf die Nachfrage reagieren könnte, würde eine steigende Nachfrage die Preise in die Höhe treiben. Der Effekt wäre in vieler Hinsicht unerwünscht. Wo jetzt schon viel gebaut wird, würde nicht nur die Zersiedlung voranschreiten. Es ist auch bei einer Verknappung des Angebots mit deutlich steigenden Preisen zu rechnen, was natürlich abträglich wäre für den preisgünstigen Wohnungsbau.

Michel Benedetti
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