Wohnen und Arbeiten in Corona-Zeiten: Zwei Szenario-Analysen

2020 wird uns allen als das Jahr der «neuen Normalität» in Erinnerung bleiben. Schwierig waren die einschneidenden Veränderungen im sozialen Kontakt. Wer zu Hause arbeitete, sucht Gründe, um wenigstens einmal aus dem Haus zu gehen, um sich unter die Menschen zu «mischen» – mit nötigem Abstand natürlich. Die Familienfeier zu Weihnachten war wohl personell streng reduziert und erfolgte wahrscheinlich ohne die üblichen Gefühlsbezeugungen. Dies sind Besonderheiten, die mit dem Ende der Krise langsam verschwinden werden. Aber es wird nicht so werden wie früher. Die Corona-Krise hat unsere Lebensgestaltung und das Arbeitsverhalten drastisch verändert. Das virtuelle Büro oder die virtuelle Schule sind Wirklichkeit geworden. Das «Neue Arbeiten im New Normal» hat eine neue Realität geschaffen, die uns in den nächsten Jahren weiter begleiten wird. Der Einfluss dieser Realität auf den Immobilienmarkt ist bereits jetzt deutlich zu Tage getreten.

Und täglich grüsst(e) das Murmeltier

Ein Alltagsbild vor Corona: Zu den Stosszeiten stehen Menschen dicht gedrängt in überfüllten Regional- und Schnellzügen. Jeden Morgen gerät der Autoverkehr vom Aargau nach Zürich regelmässig ins Stocken. Neue Tunnels führten zu mehr Verkehr und schlussendlich wieder in den Stau. Hier hat Corona deutlich aufgeräumt. Eine von zwei führenden Hochschulen publizierte Studie macht dies besonders deutlich. In der Zeitspanne vom ersten Lockdown bis zur zweiten Welle im Oktober 2020 wurden Pendler eingeladen, ihr Mobilitätsverhalten auf einem «GPS-Reisetagebuch» festzuhalten. Die Ergebnisse sind in zweierlei Hinsicht eindrücklich. Erstens haben die Studienteilnehmer weniger Kilometer zurückgelegt, zweitens hat sich die Wahl des Verkehrsmittels deutlich verändert. Am meisten Einbussen hat der öffentliche Verkehr verzeichnet, das Fahrrad hingegen hat sich deutlich als Alternative für kurze Strecken herausgestellt (zur Studie).

Vermehrt in den Wohnzonen arbeiten

Eine zweite interessante Erkenntnis betrifft die Frage, wo sich die Menschen in der Schweiz tagsüber aufgehalten haben. Die übliche Routine scheint dort durchbrochen. Vor Corona sind die meisten Arbeitnehmer morgens früh aufgestanden und haben sich von ihrem Wohnort zu ihrem Arbeitsplatz bewegt, mit Personenwagen oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Da sich die meisten Arbeitsstellen in den grösseren Städten befinden, pendelten die meisten vom Land in die Stadt und am Abend von der Stadt ins Land oder in die Agglomerationen. Entsprechend hoch war während der Zu- oder Rückfahrt das Verkehrsvolumen. Die Corona-Krise hat nun in Sachen Mobilität neue Fakten geschaffen. Generell gesprochen sind Herr und Frau Schweizer vermehrt zu Hause geblieben und haben von zu Hause aus gearbeitet.

Wenn mehr Menschen mehr Zeit in Ihrem Wohnraum verbringen, werden sich die Bedürfnisse diesbezüglich verändern. Wer hat schon Lust, tagein und tagaus die exakt gleichen Wände und Möbel zu betrachten? Die Wohnung ist nicht mehr «nur» Schlafstätte und Freizeitraum, sondern neu auch ein Arbeitsplatz. Tendenziell wird es ein Zimmer (Arbeitszimmer) mehr brauchen, damit das häusliche Leben mit Kleinkindern oder Haustieren nicht zu sehr mit der Arbeit kollidiert. IAZI hat nun eine Szenario-Analyse durchgeführt, welche die folgende Frage untersucht: Wie weit muss ein Haushalt innerhalb der Schweiz umziehen, um bei gleicher oder tieferen Miete ein zusätzliches Zimmer zu erhalten? (siehe Grafik: «Suche nach mehr Raum: Schweizweites Zügeln»).

Die Bewohner in den hochpreisigen Metropolitanregionen sind im Vorteil. Wer ein Zimmer mehr für den gleichen oder tieferen Preis sucht, findet dies oft in einem Umkreis von weniger als 30 Minuten Fahrzeit zum aktuellen Wohnort. In sehr ländlichen Gemeinden wird es jedoch schwieriger, eine grössere Wohnung zu gleichen oder tieferen Mieten zu finden. Hier müssten schon wesentlich höhere Umzugsdistanzen in Kauf genommen werden.

Gemeindeklassement in Corona-Zeiten

In einer zweiten Szenario-Analyse ist IAZI der Frage nachgegangen, ob die neuen Paradigmen bezüglich Mobilität, Arbeitsverhalten und Wohnbedürfnisse sich auf die Standortattraktivität auswirken könnten. Die «Weltwoche» publiziert jedes Jahr eine von IAZI berechnete Rangliste mit den attraktivsten Gemeinden. Dafür dienen verschiedene Standortkategorien wie z.B. die Entwicklung der Immobilienpreise, die Nähe zu Schulen oder weiteren Bildungseinrichtungen, die Sicherheit etc. Es gibt dabei einen Gesamtrang und einen Rang je nach Kategorie. Um dem «New Normal» gerecht zu werden, hat IAZI ein «Gemeindeklassement in Corona-Zeiten» berechnet. Aufgrund der sich in der Pandemie veränderten Bedürfnisse wie z.B. nach mehr Wohnfläche oder nach mehr Erholungsanlagen und Grünflächen und tiefere Siedlungsdichte ergeben sich je 5 Topgemeinden pro Kanton (siehe interaktive Karte).

Gemeinden mit gutem Wohnraumangebot, geringer Siedlungsdichte und einer guten Versorgungslage (besonders im Gesundheits- und Erholungsbereich) stehen hoch im Kurs. Die grossen Städte verlieren in diesem Kontext an Attraktivität. Es wird aber noch eine Zeitlang dauern, bis sich diese neuen Trends auf die urbane Wohnpolitik auswirken werden. Momentan sind Grossstädte noch dem Dogma Verdichtung verpflichtet. Doch Verdichtung heisst im gegenwärtigen gesundheitlichen Kontext auch höhere Ansteckung. Wird es in diesem Fall eine Renaissance der Landflucht geben, wie sie bis zu den 1980er Jahren vorgeherrscht hat? Es wird davon abhängen, ob Corona nur eine Episode ist oder über weitere Jahre begleitet.

Michel Benedetti
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